Prof. Dr. phil. Wiebke Scharff Rethfeldt
Weg vom monolingualen Mindset – Perspektiven für eine gerechte Sprachentwicklungsdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern in superdiversen Lebenswelten
Der Anteil kulturell divers und mehrsprachig aufwachsender Kinder im Vorschulalter in der Bevölkerung ist in den letzten zehn Jahren weiter gestiegen. Dementsprechend häufiger werden sie auch in ärztlichen und logopädischen Praxen vorgestellt. Bei ihnen stellt sich oft die differentialdiagnostische Frage, ob eine therapiebedürftige Sprachentwicklungsstörung oder ein Sprachförderbedarf vorliegt, dem durch pädagogische Maßnahmen begegnet werden sollte. Dabei sind mehrsprachig aufwachsende Kinder in Deutschland ungleich höher von Fehlallokationen betroffen als einsprachige Kinder. Neben verschiedenen Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung tragen eine unzureichende Berücksichtigung der Einflussfaktoren des Mehrspracherwerbs und der damit verbundene Einsatz ungeeigneter diagnostischer Methoden und Instrumente in der sozialpädiatrischen, frühpädagogischen sowie logopädischen Praxis wesentlich zu Fehldiagnosen bei. Nachhaltige Fehlentscheidungen über Förder- oder Therapieangebote sind die Folge. Das auf etablierten wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen überwiegend zum Spracherwerb monolingualer Kinder der Mittelschicht entwickelte sprachtherapeutische Vorgehen kann den Anspruch auf eine valide Identifikation einer potenziellen Sprachentwicklungsstörung aber nicht mehr gewährleisten, weil heutige Spracherwerbssituationen vielschichtiger und komplizierter sind. Die hiermit verbundenen Einflussfaktoren erfordern ein entsprechendes methodisch vielschichtiges, kultursensitives Vorgehen.
Der Vortrag gibt einen Einblick, welche Faktoren und Methoden zu nachgewiesenen Fehlversorgung beitragen, und welche Methoden (nicht) zur Identifikation einer Sprachentwicklungsstörung bei mehrsprachigen Kindern geeignet sind. Zuhörende werden zu einem Paradigmenwechsel angeregt, welcher das monolinguale Mindset zugunsten einer am Individuum ausgerichteten logopädischen Diagnostik ablöst, um eine zielführende und gesundheitlich gerechtere Versorgung zu ermöglichen.
Frau Prof. Dr. Scharff Rethfeldt ist Logopädin und leitet als Professorin für Logopädie den Studienbereich Logopädie des Aufbaustudiengangs Angewandte Therapiewissenschaften – Logopädie und Physiotherapie B.Sc. für bereits qualifizierte LogopädInnen und Atem-Sprech- und StimmlehrerInnen an der Hochschule Bremen.
National und international vertritt Sie das Fachgebiet der Sprech-, Sprach- und Kommunikationsstörungen bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern verschiedener Herkunfts- und Familiensprachen.
Zu ihren Arbeitsschwerpunkten in Lehre und Forschung zählen die Früherkennung von Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung, sowie Zugänge zur logopädischen Versorgung und Maßnahmen gegen Fehlallokationen. Dabei nimmt Sie eine logopädische Perspektive im Sinne einer am Individuum ausgerichteten evidenzbasierten Praxis unter Orientierung an der ICF-CY ein.
Mit ihrer Arbeit in Lehre, Forschung und Wissenschaftskommunikation verfolgt Sie insbesondere folgende Ziele für eine nachhaltige Entwicklung gemäß der Agenda 2030 der Vereinten Nationen:
1 – Keine Armut
3 – Gesundheit und Wohlergehen
4 – Hochwertige Bildung
10 – Weniger Ungleichheiten
16 – Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen
17 – Partnerschaften zur Erreichung der Ziele
Judith Häusermann
Kultursensitive Zusammenarbeit mit Eltern in der sprachlichen Diagnostik, Therapie/Förderung und Beratung
Mehrsprachigkeit ist immer auch mit Mehrkulturigkeit verbunden. Für eine gelingende logopädische, pädagogische und pädiatrische Begleitung ist es wichtig, den kulturellen Hintergrund der Eltern zu kennen und in die Zusammenarbeit mit einzubeziehen. Das Konzept der zwei prototypischen soziokulturellen Kontexte nach Borke & Keller (2014) bietet eine hilfreiche Reflexionsgrundlage, um verschiedene Perspektiven auf Erziehungsvorstellungen zu diskutieren und verstehen. Der Vortrag zeigt anhand von Fallbeispielen auf, wie diese kultursensitive Herangehensweise Missverständnisse klären und Anknüpfungspunkte für eine gemeinsame Sichtweise in der sprachlichen Diagnostik, Therapie/Förderung und Beratung ermöglichen kann.
Judith Häusermann schloss im Jahr 2002 ihr Diplom in Logopädie an der Universität Freiburg in der Schweiz ab. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als Logopädin im Vorschulbereich am Zentrum für kleine Kinder in Winterthur, wo sie von 2002 bis 2011 tätig war. Anschließend arbeitete sie bis 2020 als Logopädin am Schulpsychologischen Dienst des Kantons Aargau. Seit 2020 ist sie stellvertretende Leiterin und Logopädin im Vorschul- und Schulbereich am Logopädischen Dienst der Stadt Luzern.
Parallel zu ihrer logopädischen Arbeit erwarb sie 2008 einen Master in Allgemeiner Heilpädagogik an der Universität Freiburg. Seit 2009 ist sie als freischaffende Dozentin tätig, mit einem Schwerpunkt auf kindlicher Mehrsprachigkeit. Zudem hat sie seit 2014 einen Lehrauftrag für das Modul Mehrsprachigkeit an der Hochschule für Logopädie Ostschweiz in St. Gallen übernommen.